In der Interviewreihe ‹Aussichten› geben Künstlerinnen und Künstler in den nächsten Wochen einen Vorgeschmack auf die verschobenen Veranstaltungen von ‹Wege durch das Land›. An jedem der zwölf Tage, an dem eigentlich eine Veranstaltung geplant war, kommt eine Künstlerin oder ein Künstler der Veranstaltung zu Wort. In den Gesprächen verraten die Beteiligten u. a., was sie mit ‹Freiheit› verbinden oder auf welche Lesung bzw. welches Konzert sie sich am meisten freuen. So macht ‹Aussichten› Lust auf den Spätsommer.

Die Interviews werden auch als Newsletter verschickt.

Zionskirche Bethel, Mittwoch, 12. Mai 2021

Crescentia Dünßer ist Schauspielerin, Regisseurin und lehrt an verschiedenen Hochschulen im deutschsprachigen Raum. Für ‹Wege durch das Land› hat sie im März in den Bodelschwinghschen Anstalten von Bethel einen Schreibworkshop mit Betreuten und Bertreuenden durchgeführt.

Liebe Crescentia Dünßer, was bedeutet für dich Freiheit?
Während dieser ganzen pandemischen Zeit hab ich gemerkt, dass mein Begriff von Freiheit immer weniger mit dem Außen zu tun hat. Natürlich gibt es Freiheiten in äußeren Bedingungen. Ich lebe in einem Land, in dem ich zum Beispiel Gleichberechtigung zumindest ansatzweise leben kann. Oder ich kann dafür kämpfen, ohne ins Gefängnis zu müssen. Ich darf mich mit Themen beschäftigen, mit denen ich mich beschäftigen möchte. Das ist ein großer Teil der Freiheit. Aber was ist meine innere Freiheit? Wo übernehme ich selbst Verantwortung, wenn ich mich nicht frei fühle? Wie sehr bin ich mir selber Gefängnis? Ich beobachte zunehmend, dass ich innere Freiheit gewinne, wenn ich bereit bin zu schauen, welcher Reichtum sich in meinem inneren Raum befindet.

Crescentia Dünßer © Mirjam Bollag Dondi

Am 12. Mai werden wir ja leider nicht das Festival zusammen mit dir eröffnen können. Aber dein Workshop für intuitives Schreiben hat im März in Bethel stattgefunden. Live!
Ja, das war herausfordernd, aber auch wahnsinnig schön. Da haben Menschen teilgenommen, die in Bethel arbeiten und betreut werden, und Menschen, die betreuen. Wie finde ich in diesem Rahmen Fragestellungen, die alle gleichermaßen treffen und beschäftigen können? Wie können wir auf eine gemeinsame Reise gehen, obwohl wir in dem, wo wir herkommen oder hindenken, sehr verschieden sind? Das Tolle ist, dass in dem Moment, in dem ich diesen sieben Menschen die gleiche Frage stellte im assoziativen Feld, in dieser für alle gleichermaßen unbekannten Situation, geschah das Wunder, das ich so oft erleben darf beim intuitiven Schreiben: Dass die Einzelnen sich selbst und die anderen neu entdecken und hören können. Woher wir kommen oder was immer unser Kontext sein mag, durch das gemeinsame Schreiben werden Ähnlichkeiten von Erfahrungen und Geschichten spürbar, das wirkt sehr verbindend.

‹Schreibinseln› der Workshop-Teilnehmenden

Wir freuen uns diese Texte im Spätsommer bei ‹Wege durch das Land› zu hören! Was oder wer inspiriert dich in dieser Zeit?
Im Moment ist es ‹Vom Aufstehen› von Helga Schubert, der Bachmann-Preisträgerin vom letzten Jahr, das hat mich sehr erwischt. In ihren Geschichten wird so viel über das Leben schlechthin erzählt, mit Herz und Verstand, als kunstvoll verdichtete literarische Essenz.
Leseprobe: ‹Vom Aufstehen›

Wenn Kultur wieder live stattfinden kann, was ist dann das erste Konzert, auf das du gehen möchtest?
Als ich eure Vernissage gehört habe, dachte ich, ich hätte richtig Lust auf das Konzert von Mine. Diese Frau mit ihrer Lebendigkeit und ihren schrägen Texten im Juli live zu erleben wäre mir ein Fest.
MINE Musik

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Crescentia.

Anfang Juni geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit Crescentia Dünßer stattfinden wird.

Alte Sparkasse Bielefeld, Freitag, 14. Mai 2021

Die all female Avantgarde Pop Band SiEA ist ganz neu auf dem Markt: Am 30. April erschien das Debütalbum ‹Ride›. Die Musikerinnen fallen auf – sowohl akustisch durch ihren außergewöhnlichen Sound als auch visuell durch die galaktischen Kostüme. In unserer Reihe ‹Aussichten› sprachen wir mit Antonia Dering, Bandleaderin, Sängerin und Creative Mind hinter dem Kollektiv.

Was bedeutet für Sie Freiheit, liebe Antonia Dering?

Seit Jahren pendel‘ ich zwischen Wien und München hin und her. Seit ein paar Monaten führen GrenzpolizistInnen sowohl in Deutschland, als auch in Österreich sehr strenge und oft im Ton auch sehr, sagen wir mal, fordernde Kontrollen durch. Die damit einhergehende Verunsicherung und oft ängstliche Nervosität bin ich als knallweiße, super privilegierte Europäerin mit einem der ‹mächtigsten› Pässe weltweit nicht gewohnt. Einmal mehr lerne ich hier zu schätzen mit welch großer Freiheit und Selbstbestimmung ich normal tun und lassen kann was ich will.

SiEA © Christoph Lohr

Was hat Sie in den vergangenen Monaten inspiriert?

Es war für mich unglaublich wichtig zwischen all den strengen Isolationszeiträumen direkten Kontakt mit den anderen MusikerInnen zu haben. Wenn man nach ein paar Wochen der Abstinenz endlich wieder gemeinsam im Proberaum steht und man zu spielen beginnt, das fühlt sich immer an, als würde man endlich wieder richtig einatmen können. Wir haben mit SiEA seit Beginn von Corona vier Konzerte gespielt. Jeder Abend war so voller Energie. Eine Energie, die wir alle seit Monaten in uns klein halten und die dann plötzlich wieder ausbrechen darf. Ich wusste oft gar nicht, ob ich laut lachen, befreit heulen oder rumspringen möchte. Diese kurzen Momente lassen mich dann durchhalten, wenn es Förderanträge, Coronahilfen oder sonstige Bürosachen abzuarbeiten gilt.

SiEA ist eine brandneue Avantgarde-Pop-Band, gerade haben Sie ihr Debütalbum ‹Ride› veröffentlicht. Was ist die message hinter ‹Ride›?

In unserem Album, so wie den einzelnen Stücken machen wir uns auf die Suche. Wir stülpen uns unsere Taucherglocke über oder schlüpfen in unseren Astronautinnenanzug und zieh‘n los; zu einem neuen, besseren Planeten nach der Apokalypse, wir begeben uns auf die Suche nach geliebten und verlorenen Menschen, nach dem ‹perfekten› Ich oder einfach nach Dingen, die uns Kraft geben: die Musik, die anderen MusikerInnen, unsere Erfahrungen und unser Selbstvertrauen. Diese Abenteuerfahrt findet sich im Namen ‹Ride› (engl.: Fahrt, Trip) wieder. Außerdem ist es eine Anspielung auf die super coole und mutige Sally Ride, eine der ersten Frauen im Weltall.

Astronautin Sally Ride ist tot: Die erste Amerikanerin im Weltall – Menschen – FAZ

SiEA © Christoph Lohr

Was bedeutet es für SiEA, das Debütalbum in einer Zeit zu veröffentlichen, in der das kulturelle Leben und die Veranstaltungsbranche stark eingeschränkt werden? Wie bleiben Sie und die Band kreativ?

Wir haben im Laufe des letzten Jahres gelernt, dass momentan nichts mehr so ist, wie man es sich vorstellt. Ein normales Release-Konzert ginge mit viel Publikum und einer rauschenden Release-Feier einher, danach gäbe es eine Release-Tour und Festivals auf denen man das Album präsentiert. Nun freuen wir uns über jede Situation, die einem normalen Konzert so nah wie möglich kommt. Wir hoffen, das Album trotzdem viel zu verkaufen. Und irgendwann werden die Dinge auch wieder so, wie sie eigentlich geplant waren.

Wir proben, komponieren, drehen Videos, machen Fotos, beschäftigen uns so gut es geht.

Ich selbst habe momentan einen schönen Output über neue Kompositionen, in denen ich viele meiner Emotionen direkt verarbeiten kann. Der Moment, wenn ich die Kompositionen zur Band mitbringe und die Lieder von diesen großartigen Musikerinnen zum ersten Mal interpretiert höre, ist immer ganz besonders.

Was macht das Genre Avantgarde-Pop in Ihrer Musik aus?

Ursprünglich kommt der Großteil von uns aus dem Jazz. In freieren, improvisierten Momenten findet sich dieses Genre immer wieder in unserer Musik, untermauert von fetten Poprhythmen. Bei unseren Auftritten gibt es immer ein paar performative, fast schon theatrale Momente. Aufwendige Kostümelemente, wie unsere Taucherglocke oder LED-Brüste, unterstreichen sowohl unsere Live-Performances, wie unsere Musikvideos. Unsere Kostüme und Requisiten werden von meiner Schwester, Carlotta Dering entworfen und gefertigt.

Natürlich freuen wir uns darauf, wenn Sie bald auf unserer Bühne stehen werden. Aber welchen kulturellen Live-Moment sehnen Sie als Besucherin am meisten herbei?

Ich möchte unglaublich gern wieder Tanzen geh‘n. Ein Abend, in einem Club, mit Liveband oder DJ, mit vielen Freunden und Freundinnen, allen ist viel zu heiß, jeder schwitzt, alle sind viel zu nah aneinander dran, schreien sich gegenseitig an, tanzen, trinken und um 4 holt man sich Pommes an der Dönerbude, dann marschiert man irgendwann heim und die Füße tun weh, es klirrt in den Ohren, die Vögel zwitschern und in der Ferne geht rosa die Sonne auf.

Vielen Dank für das spannende Gespräch, Antonia Dering!

Anfang Juni geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit SiEA stattfinden wird.

Wanderung: Hof Meyer zur Müdehorst, Samstag, 15. Mai 2021

Gerhard Falkner gilt als einer der einflussreichsten und stilprägenden zeitgenössischen deutschen Lyriker. La peinture en plein air, die Malerei im Freien, nahm er sich für seinen ‹Schorfheide›-Zyklus zum Vorbild, der 2019 erschien und aus dem er bei ‹Wege durch das Land› lesen wird.

Lieber Gerhard Falkner, was verbindest du mit Freiheit?

Das ist eine schwierige Frage, vor der ich mich gerne drücken würde. Freiheit ist, wenn er ernst genommen wird, ein so komplexer Begriff, der angefangen bei Platon durch die wichtigsten und schwierigsten Philosophen der gesamten Philosophiegeschichte geht und niemals zu einer endgültigen Definition gefunden hat. Freiheit setzt natürlich in erster Linie mal Willensfreiheit voraus, um die Freiheit zu haben, sich zwischen verschiedenen Dingen entscheiden zu können. Also eine vom Subjekt ausgehende Entscheidung zu treffen. Ich meine, wie kompliziert hat meinetwegen Kant das Thema reflektiert. Der kategorische Imperativ ist ja eine Zusammenfassung dieser Überlegungen. Und das sind – das geht bis zu Heidegger – sehr komplizierte philosophische Positionen, die auch oft widerspruchsreich aufeinanderprallen. Da sollte man vorsichtig sein. Freiheit ist ja ein trotz allem wahnsinnig kostbarer Begriff.

Gerhard Falkner © Alexander Paul Englert

Was hat dich in den letzten Wochen oder Monaten inspiriert?

Der Begriff der Inspiration ist ähnlich schwer fassbar wie der Begriff der Freiheit. Ich war bis vor wenigen Tagen drei Monate in der Schweiz. Das hat mich sehr fasziniert, weil ich da viele Dinge tun kann, die mir sehr wichtig sind. Ich bin sehr viel gelaufen und gewandert und habe sehr viele Beobachtungen auch im ornithologischen Bereich gemacht. Das war großartig. Ich war dort schon sehr oft. Ich wurde als einer der ersten mit dem Spycher-Literaturpreis ausgezeichnet und war damals längere Zeit am Stück im Wallis und habe da meine alten Kontakte zu Rilke gepflegt, der dort in seinem Schloss Muzot die Duineser Elegien zu Ende geschrieben hat. Also ein ziemlich potenter Ort.

Rainer Maria Rilkes Schloss Muzot 

Bei ‹Wege durch das Land› wirst du aus deinem ‹Schorfheide›-Zyklus lesen, für den du dir die Malerei im Freien zum Vorbild genommen hast. Darf man sich also vorstellen, dass du mit Stift und Papier durch die Natur wanderst und deine Verse unter freiem Himmel verfasst?

Nein, ich bin kein Spitzweg-Poet. Ich habe zwar fast immer Notizblock und Schreibzeug einstecken, aber nicht um Texte zu entwerfen, sondern nur um kleine Ideen zu diesen Texten zu notieren, auf die ich später auch gar nicht unbedingt zurückgreife. Aber sie sind für mich ein Anknüpfungspunkt an die Beobachtungen, weil ich versuche bei der Poesie auch von Betrachtung auszugehen. Bei den Schorfheide Gedichten, da gab es den größeren Zusammenhang einer für mich sehr aufregenden Landschaft, in der ich mich sehr gefordert fühlte und mich auch sehr wohl gefühlt habe.
SWR 2 Lesenswert: Schorfheide

Im Spätsommer werden wir uns dann nicht in der Schorfheide, sondern im Ravensberger Hügelland befinden. Weißt du schon, was du lesen wirst?

Das entscheide ich spontan vor Ort, weil man kann ja nicht Texte auswählen, die auf eine völlig andersartige Umgebung bezogen sind, ohne die Umgebung zu kennen, wo sie jetzt repräsentiert werden sollen. Und dann darf sich da auch ruhig eine bestimmte Spannung einstellen zwischen dem, was gelesen wird, und dem, was gerade sichtbar sein wird.

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Gerhard.

Anfang Juni geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit Gerhard Falkner stattfinden wird.

RecyclingBörse! Bielefeld, Sonntag, 16. Mai 2021

Die Schriftstellerin Miku Sophie Kühmel veröffentlichte 2019 ihren Debütroman ‹Kintsugi›, der gleich mehrfach ausgezeichnet wurde. Heute hätte sie ihn in der RecyclingBörse! in Bielefeld vorstellen sollen – stattdessen haben wir ihr einige Fragen gestellt.

Was bedeutet für Sie Freiheit, Miku Sophie Kühmel?

Tun und lassen zu dürfen, was ich will, solange ich damit niemand anderes Freiheit beschneide. Ich bin da ganz bescheiden. 🙂

Miku Sophie Kühmel © Andreas Labes

Was hat Sie in den letzten Monaten inspiriert?

Inspiration ist ja irgendwie so ein schwieriges Ding, es passiert meistens dann, wenn man sich eigentlich gerade schlecht fühlt, weil man nicht arbeitet. Eine der schönsten Lektüren war Linn Strømsborgs Roman ‹Nie Nie Nie›, eine der ergreifendsten Tätigkeiten war, Klavier spielen zu lernen (ich bin immer noch sehr schlecht, aber voll Begeisterung).

Linn Strømsborg ‹Nie Nie Nie›, übersetzt von Stefan Pluschkat

Warum sind, Ihrer Meinung nach, Kunst und Literatur wichtig?

Für mich ergibt die Welt ohne sie leider wenig Sinn. Künstlerischer Ausdruck kann mir häufig noch viel mehr sagen als alle anderen Zugriffe auf Themen und Probleme. Sowohl die Werke anderer als auch eigene Texte: Joan Didion sagte, sie begreife die Welt, während sie schreibe. Kunst und Literatur im Besonderen sind für mich da glaube ich auch so ein Schlüssel zum Verstehen der Dinge.

Haben die vergangenen Monate Ihre Art zu schreiben beeinflusst?

Sie haben eher meine Perspektive auf das Reisen beeinflusst und allgemeiner: auf das Sein an unterschiedlichen Orten. Meine Begeisterung dafür, mal an einem anderen Tisch in einem Café zum Beispiel sitzen zu können oder den Vormittag in Galerien zu verbringen, ist groß geworden. Ich hoffe, ich kann mir, sobald wir diese Dinge wieder tun können, eine gewisse Dankbarkeit und Bewusstheit für solche Freiheiten erhalten.

Natürlich freuen wir uns darauf, wenn Sie bald auf unserer Bühne stehen werden. Aber welchen kulturellen Live-Moment sehnen Sie als Besucherin am meisten herbei?

Mir fehlen viele Dinge, aber am meisten vermisse ich die Raucherpausen bei einer heißgeliebten kleinen Lesebühne in Berlin, bei denen ich mit meinen liebsten Leuten aus der Szene im Kreis herumstehe und witzle, bevor wir wieder in die Ruhe eines abgedunkelten Saals tauchen. Nicht nur da: gemeinsam sitzen, kollektives Erleben, auch im Kino, fehlt mir sehr – ganz besonders dann, wenn Film, Text, Stück vielleicht sogar total langweilig sind. Das schiere Erleben und sich Aussetzen ist das wertvolle. Und das Sprechen darüber danach.

Vielen Dank für das schöne Gespräch, Miku Sophie Kühmel!

Anfang Juni geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit Miku Sophie Kühmel stattfinden wird.

Gutshof Schulte-Drüggelte, Samstag, 22. Mai 2021

Viele kennen Anna Schudt vor allem durch ihre Rolle der Kommissarin Martina Bönisch im Dortmunder Tatort. Doch die mehrfach ausgezeichnete Schauspielerin blickt auch auf erfolgreiche Jahre auf der Theaterbühne zurück und hat ein Faible für extreme Charaktere, wie sie im FAZ-Interview verriet. Auf dem Gutshof Schulte-Drüggelte hätte sie heute über das Marionettenspiel gelesen.

Unser Festival steht in diesem Jahr unter dem Motto ‹Freiheit und Angst›. Was bedeutet für Sie Freiheit?

Freiheit ist die Abwesenheit von Angst. Diesem Satz schließe ich mich total an. Innere und äußere Freiheit, zu tun, zu denken und zu lassen wie es einem beliebt, im Sinne des Miteinanders, der Achtsamkeit und des Respekts vor den eigenen Grenzen, bedeutet für mich Freiheit.

Anna Schudt © Mirjam Knickriem

Was hat Sie in den letzten Wochen oder Monaten inspiriert?

Mich hat vor allem der Gedanke ‹inspiriert› dass alles irgendwann ein Ende hat. Nichts bleibt, wie es ist, das Leben ist Veränderung und Anpassung an die herrschenden Zustände. Alles ist ständig in Bewegung. Daher habe ich diesen Zustand des Innehaltens versucht zu zelebrieren. Wie eine Bewegung.

Bei ‹Wege durch das Land› werden Sie u. a. aus Heinrich von Kleists ‹Über das Marionettentheater› lesen. Kleist zufolge gibt es eine ‹natürliche Grazie›, die sich in der völligen Abwesenheit von Bewusstsein manifestiert und die zu erreichen die höchste und schwierigste Aufgabe eines Künstlers sei. Wie denken Sie als Schauspielerin darüber?

Kleist schreibt über den Schwerpunkt, von dem aus sich alles andere in Bewegung setzt, das passiert nur, wenn man sich überlässt, jede Art von Wollen ist da fehl am Platz. Das ist für mich als Schauspielerin ganz ähnlich, vor jeder Szene versuche ich mich in einen Zustand der Unwissenheit zu begeben. Ein weißes Blatt Papier. Das ist mit dieser Theorie der Grazie zu vergleichen. Eine gut geschriebene und gespielte Szene ist wie ein Tanz, der aus dem Kern der Situation entsteht.

Der zweite Text, aus dem Sie lesen werden, ist Storms Novelle ‹Pole Poppenspäler›. Diese lebt vom Gegensatz zwischen Künstlerschicksal und der bürgerlichen Welt. Ist dieser Gegensatz für Sie rund 150 Jahre später auch noch ein Thema?

Heute haben wir eine ganz andere Situation. Künstler:innen, Gaukler:innen und Schauspieler:innen haben ein hohes Ansehen, werden bewundert und bestaunt, es ist eine sehr begehrte Profession geworden. Ich denke, wir können nicht mehr ermessen, wie schwierig das Leben für die fahrenden Künstler:innen damals war.

Und welchen kulturellen Live-Moment – Konzert, Lesung oder etwas ganz anderes – sehnen Sie als Besucherin am meisten herbei?

Ich sehne mich nach jedem Life-Moment im Leben. Mit Menschen ein Erlebnis wie Theater teilen, dasselbe zu hören und zu sehen, danach zusammen zu sitzen und darüber zu sprechen, davon zu zehren und zu lernen, das fehlt mir zutiefst und das sehne ich mit jeder Faser wieder herbei.

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Anna Schudt.

Am 22. Juni wäre nach der Lesung von Anna Schudt auch die Augsburger Puppenkiste aufgetreten. Kürzlich hat das beliebte Marionettentheater wieder für Aufmerksamkeit gesorgt – mit einem Video zum Thema Corona.

Im Juni geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit Anna Schudt stattfinden wird.

Gutshof Schulte-Drüggelte, Sonntag, 23. Mai 2021

Liebe Lisa, lieber Boris, was bedeutet Freiheit für euch?

Lisa: Freiheit, das ist so ein großes Wort. Fast zu groß, um es zu fassen. Wenn ich darüber nachdenke, weiß ich gar nicht, ob ich jemals wirklich frei war. Eigentlich unterliegt man ja immer irgendwelchen Zwängen. Die Momente, an denen ich mich am freisten gefühlt habe, hatten auf jeden Fall immer mit Musik zu tun. Ich erinnere mich an ein Konzert mit unserer ‹Erwachsenenband› micatone in einem ehemals besetzten Haus in Berlin, bei dem wir in einen gemeinsamen Fluss kamen und es regelrecht ekstatisch wurde. Das gemeinsame Musizieren kann einen, wenn es gut läuft, in einen Zustand bringen, der sich dem Begriff ‹Freiheit› vielleicht annähert. Ansonsten würde ich ‹Freiheit› in Reinform als einen Idealzustand, ähnlich wie ‹Glück› oder ‹reine Liebe› betrachten.

Wir sehen Freiheit im gesellschaftlichen Sinne als ein kostbares Gut, das es zu schützen gilt. Wenn man darauf schaut, wie viele Demagogen und Diktatoren in der letzten Zeit an die Macht gekommen sind und wie viele Menschen auf dieser Welt alles andere als frei (im Sinne von ‹nicht eingesperrt, nicht bedroht›) sind, ist es schon beängstigend.

Was hat euch in den letzten Wochen und Monaten inspiriert?

Boris: Mir hilft oft, sich gute Konzerte im Internet anzugucken. Dann denke ich immer: ‹Ach ja, so war das mal. Und so wird es hoffentlich bald wieder sein›.

Lisa: Ja, das mag ich auch gern und ich habe mich auch, seit es wärmer ist, sehr über Straßenmusik gefreut. Ich glaube, ich habe live Musik wieder richtig zu schätzen gelernt. Letztens fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause und an einem Brunnen stand eine Band, Kontrabass, Geige, Gesang und Gitarre und ich merkte wie der Wunsch, Musik zu machen und zu schreiben, wieder total stark wurde. Im letzten Jahr hatte ich manchmal das Gefühl, ich hätte meine Musikeridentität einfach abgestreift wie eine alte Haut und sie irgendwo ganz weit hinten im Schrank verstaut, und es war gut zu fühlen, dass dem nicht so ist.

Choral Benediction – Don’t Wanna Love Nobody But You God

Lianne La Havas: Tiny Desk (Home) Concert

In eurem Song ‹Tanzsalat› gibt es eine Textzeile, die lautet ‹Alles so quadratisch, zu viel Symmetrie, was mir daran fehlte, war ein bisschen Anarchie›. Ist dies auch die allgemeine Botschaft eurer Musik? Ein Aufruf für mehr Kreativität, freiem Denken und Spaß?

Boris: Das klingt jetzt nicht so vollkommen verkehrt.

Lisa: Ja, da ist was dran. Ich erinnere mich daran, dass ich überlegte, ob der Begriff ‹Anarchie› denn kindgerecht genug sei, im gleichen Song wird ja auch zur Zerschlagung des Patriarchats aufgerufen u.v.m., aber ich habe mir überlegt, dass die Kinder ja nachfragen können wenn sie was nicht verstehen.

Eure Lieder sind ein bunter Mix aus Jazz, Blues und u. a. auch Einflüssen der Neuen-Deutschen-Welle. Was hört ihr privat momentan für Musik?

Boris: Bei mir geht es querfeldein, von Songs von Valerie June oder Courtney Barnett bis zu 60er Jahre Orgeljazz und viel Sendung-mit-der-Maus Radio, das mein Sohn ständig hört.

Lisa: Ich habe Zeiten, in denen ich mich auf Musik einlassen kann, und Zeiten, in denen ich die Stille brauche. Ich bin grade umgezogen und wohne jetzt direkt an einem See, morgens weckt mich der Gesang der Vögel und das metallische Klackern der Segel an den Masten der Boote, die am Steg liegen. Das reicht mir zurzeit fast an Geräuschkulisse.

Letztens sah ich allerdings eine Frank Sinatra Biografie und die hat mich sehr beeindruckt. Ich bin gleich frisch getestet in den Plattenladen und kaufte mir eine Sinatra-Platte mit Balladen. Es hat mich ziemlich geflasht, wie Sinatra seine Songs klingen lassen kann, als würde ihm nie die Luft ausgehen. Die Töne sind so lang, unangestrengt und rein. Davon würde ich gern etwas in meine Musik einfließen lassen.

Natürlich freuen wir uns darauf, wenn ihr bald auf unserer Bühne stehen werdet. Aber welchen kulturellen Live-Moment sehnt ihr als Besucher*in am meisten herbei?

Boris: Wieder in kleine verschwitze Livemusikclubs zu gehen, fehlt.

Lisa: Ich freue mich auch, wieder auf Konzerte gehen zu können. Aber genau wie Boris sagt, ich vermisse auch das ‹Verschwitzte›, Dichtgedrängte. Ein Konzertbesuch besteht ja nicht nur aus Zuhören sondern aus Interaktion, mit den Musiker*innen, mit den anderen Besucher*innen. Ich möchte gern wieder mit vielen Menschen zusammen in einem Raum sein können. Hätte nie gedacht, dass ich sowas mal sagen würde, aber der Mangel erzeugt wohl den Wunsch.

Und können wir uns bald auf weitere Musik von ‹Eule und Lerche› freuen? Gibt es schon Pläne?

Viele Ideen fliegen herum, manche nehmen wir auf. Aber die Pandemie verlangsamt auch die Studioarbeit bei uns. Zurzeit sitzen wir an einem Weihnachtslied und hoffen, Euch damit im Winter beglücken zu können.

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Lisa und lieber Boris!

Universitätsbibliothek Bielefeld, Freitag, 28. Mai 2021

Albrecht Simons von Bockum Dolffs ist seit Herbst 2016 Leitender Dramaturg bei ‹Wege durch das Land› und ein ausgewiesener Kleist-Kenner, Theaterliebhaber und Bücher-Nerd. Als Dramaturg hat er vorher u. a. schon am Theater am Neumarkt in Zürich und am Landestheater in Linz gearbeitet. Wenn er nicht gerade bei ‹Wege durch das Land› im Einsatz ist, unterrichtet er an der Anton Bruckner Universität Linz.

Lieber Abbi, was bedeutet Freiheit für dich?

Ich halte es da ganz mit Dirko von Lowtzow von der Band Tocotronic, der sagt, dass die Freiheit mit der Freiheit der Gefühle anfängt. Das also am besten erst einmal klären und dann weiter philosophieren.

In welchen Momenten deines Lebens spürst du Freiheit am meisten?

In den Momenten, in denen ich ganz bei mir selbst bin.

Für die geplante Veranstaltung in der Unibibliothek Bielefeld stand Elias Canettis ‹Die Blendung› auf dem Programm. Der Roman beschreibt die Situation eines bibliomanen Professors, der sich ganz in seinen Büchern verliert. Kannst du das nachfühlen? Hast du dich schon mal beim Lesen ‹verloren›?

Ja. Klar. Ständig. Das ist ja der Witz beim Lesen, dass man die Türen zu einer neuen Wirklichkeit aufstößt, die mitunter nichts mit der eigenen zu tun hat, und sich labyrinthartig ganz darin verliert. Zumindest bis man merkt, dass das Buch, das, sagen wir, im Japan der Zukunft spielt und von einem jungen Mädchen handelt, das in einem fremden Körper gefangen ist, eben doch sehr doll mit meinem eigenen aktuellen Gefühlshaushalt korrespondiert. Dieser Moment, der eine scheinbar ganz andere Welt in einem existentiellen Gefühl mit meiner verbindet, – das ist doch die Magie des Lesens. Davon möchte man immer mehr und Schwuuupps ist man zum Leser geworden.

Mir ging das zuletzt so in dem Manga ‹Your Name› von Makoto Shinkai.

Bei der Veranstaltung hätten die Zuschauerinnen und Zuschauer inmitten von Büchern gesessen. Was bedeuten Bibliotheken für dich ganz persönlich?

Ich wohne in einer westfälischen Kleinstadt, in der nicht viel los ist. Aber es gibt eine Stadtbibliothek. Schöner Bau. Konventioneller Bücherbestand. Nichts Ungewöhnliches.

Und doch ist das ein Kosmos für sich. Eine eigene Welt. Ein Zufluchtsort für unzählige frustrierte Hausfrauen und verlorene Jugendliche. Ich möchte nicht wissen, wie vielen Menschen diese Stadtbibliothek mit ihren Büchern schon das Leben gerettet hat. Sicher mehreren als das örtliche Krankenhaus. Das sind Bibliotheken! Zufluchtsorte für die Bürgerinnen und Bürger, die mehr wissen wollen und sich nach mehr sehnen als die Anderen. Lebensretter.

Was war bei Planung der Veranstaltung zuerst da? Die Idee für den Text? Oder der Ort?

Der Ort! Die Unibibliothek in Bielefeld ist der größte Bücherspeicher in Ostwestfalen-Lippe und somit ein perfekter Ort für unser Festival. Der Ehrgeiz war, die Bücher, die ja eher tot in ihren Regalen stehen, zum Leben zu erwecken. Dadurch, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer in ihrer Mitte gesessen hätten. Und durch die Musik von Niels Frevert, der einer der literarischsten und lyrischsten Singer-Songwriter des Landes ist. Und natürlich durch den großen Bibliotheksroman ‹Die Blendung›. Ach, schön wäre er geworden, dieser Abend, diese Eloge auf die Bibliothek. (Schnüff! Heul!)

Welchen kulturellen Live-Moment sehnst du als Besucher am meisten herbei?

1. Die Eröffnung von ‹Wege durch das Land›!

2. Girl in Red live in Köln – Video: Serotonin

Danke für das schöne Gespräch und den Einblick, lieber Abbi.

Die Veranstaltung in der Universitätsbibliothek kann im Spätsommer 2021 leider nicht nachgeholt werden.

Theater im Park, Bad Oeynhausen, Sonntag, 30. Mai 2021

Die Capella de la Torre gilt international als eines der renommiertesten Ensembles für Bläsermusik des 14. bis 17. Jahrhunderts. Mit inzwischen 28 CD-Einspielungen und zahllosen Auszeichnungen begeistert das Kollektiv eine große Fangemeinde und auch regelmäßig das Publikum von ‹Wege durch das Land›. Wir sprachen mit Katharina Bäuml, die die Capella vor 16 Jahren gründete.

Liebe Katharina Bäuml, was bedeutet für Sie ‹Freiheit›?
Da Sie diese Frage direkt auf mich beziehen, will ich von allgemeinen Betrachtungen absehen und die ganz persönliche Antwort geben, dass Freiheit für mich derzeit vor allem bedeutet, dass ich ohne Behinderungen meinem Beruf als Musikerin nachgehen kann.
Damit wir uns recht verstehen: Die Pandemie-bedingten Beschränkungen waren gewiss notwendig. Ich würde es aber schon begrüßen, wenn sich für die Kultur und die damit verbundenen Veranstaltungen wie Konzerte ähnlich engagierte Fürsprecher und Förderer finden würden wie für die Gastronomie, die Reisebranche und den Sport.

Capella de la Torre © Amin Akthar

Was hat Sie in den letzten Monaten inspiriert?

Die letzten Monate waren von vielen Rückschlägen, Absagen und Enttäuschungen geprägt – es ging uns mit Capella de la Torre genau wie so vielen anderen aber nicht nur um die Auftritte, sondern auch teilweise ums nackte Überleben.

Bei allem hat mich die Idee eines Weiterdenkens und Findens neuer Wege während und nach der Pandemie inspiriert. So ist beispielsweise unsere interaktive Streaming-Plattform www.studio4culture.net entstanden. Wir sind ja alle Musiker*innen, weil wir gar nicht anders können, dabei tut es gut, nach vorne zu schauen und neu zu denken, um uns auch mit digitalen Mitteln besser ausdrücken zu können.

Bei ‹Wege durch das Land› tritt die Capella de la Torre gemeinsam mit dem Karateka Maurizio Castrucci auf. Wie entstand die Idee dieser außergewöhnlichen Kombination?

Maurizio Castrucci haben wir auf einem langen Flug zurück von einer Japan-Tournee mit Capella de la Torre kennengelernt. Schon beim ersten Gespräch war klar, dass sich Renaissance und Kampfkunst in vielem ähneln: Die verbindenden Elemente sind dabei einerseits der Fluss des Atems, der sowohl bei Karate Shotokan als auch in der Musik, besonders für unsere Blasinstrumente, eine entscheidende Rolle spielt. Andererseits ist es der Rhythmus: Mal verbindet er die einzelnen Schichten in der Regelmäßigkeit eines Herzschlages, mal als unvorhergesehener Ausbruch einer neuen Dimension. Rituale und das sorgsam überlieferte Wissen von Jahrhunderten erscheinen so in ganz aktuellem Licht, ohne ihren je eigenen Kontext zu verlieren.

Capella de la Torre © Anna-Kristina Bauer

Welche Wirkung hat – Ihrer Meinung nach – die Abwesenheit von Livekultur auf eine Gesellschaft?

Der Begriff ‹Kultur› ist ja nicht zufällig mit ‹Kult› verwandt. Schauen wir für den europäischen Bereich auf einen wichtigen Ursprung, auf die griechische Tragödie: Die Menschen einer ganzen Stadt haben sich getroffen, um mit einer kultisch-rituellen Feier, begleitet von Darstellung, Tanz und Musik ihren Traditionen nachzukommen und auch in die Zukunft zu schauen.

Inzwischen ist der religiöse Aspekt etwas zurück- und der der ‹reinen› Kunst eher in den Vordergrund getreten. Ich bin aber nach wie vor davon überzeugt, dass das gemeinsame Erleben kultureller Veranstaltungen, und Sie werden es mir nachsehen, wenn ich dabei besonders an die Musik denke, dass also gemeinsames kulturelles Erleben ein fundamental wichtiges ‹Bindemittel› einer Gesellschaft darstellt.

Natürlich freuen wir uns darauf, wenn Sie und die Capella de la Torre bald auf unserer Bühne stehen werden. Aber welchen kulturellen Live-Moment sehnen Sie sich als Besucherin am meisten herbei?

Für mich ist es ein magischer Moment, wenn im Live-Event Ausführende und Publikum zu einer Einheit werden. Man hält gleichzeitig den Atem an, ist hingerissen oder wippt mit.

Diese unmittelbare Kommunikation ohne Worte und im direkten Erleben habe ich sehr vermisst und bin froh, sie bald wieder erleben zu dürfen.

Danke für das Gespräch, liebe Katharina Bäuml!

Im Juni geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit der Capella de la Torre stattfinden wird.

Lyriksession, Gut Oberbehme, 03. Juni 2021

Die ganze Welt bietet Stoff, hat der Lyriker und Übersetzer Jan Wagner einmal gesagt. Man muss nur genau hinschauen. Für die Lyrikanthologie ‹Grand Tour› hat der Büchner-Preisträger gemeinsam mit Federico Italiano über die Grenzen Deutschlands hinaus und in die kleinsten Winkel Europas geschaut. Fünf Lyrikerinnen und Lyriker aus fünf unterschiedlichen Ländern hatte er für die diesjährige, von ihm kuratierte Lyriksession eingeladen. Statt auf Gut Oberbehme gewährt er uns heute in einem kurzen Interview Einblick in seine Arbeit.

Was bedeutet für Sie Freiheit, lieber Jan Wagner?

Bezogen auf das Gedicht: Der stets verblüffende Moment (so er denn kommt), wenn das eigene Gedicht mir etwas vollkommen Ungeahntes und Neues mitteilt, etwas, das ich, obwohl ja ich es bin, der das Gedicht schreibt, so noch nicht wusste; der Moment also, in dem sich die Welt jäh weitet, alles möglich scheint.

Was hat Sie in den vergangenen Monaten inspiriert?

Unter anderem Streichhölzer, bengalische Tiger und Meister Wu Daozi.

Jan Wagner © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Was macht für Sie den besonderen Reiz von Lyrik aus?

Zum einen der oben beschriebene, befreiende Augenblick; sodann vielleicht die Tatsache, dass sie sich in ihrer Kunst eben jener Sprache bedient, die wir alle Tag für Tag benutzen, um Brot zu kaufen oder ein Taxi zu rufen, dass also das Material der Lyrik jeder Leserin vertraut ist – zumal wir alle die Lust am Spielen mit Sprache und den Versuch, der Welt mittels Vergleichen und Metaphern habhaft zu werden, seit Kindheit an kennen (oder einmal kannten).

Was brauchen Sie, um schreiben zu können?

Einen gemütlichen, aber nicht zu gemütlichen Sessel. Einen bestimmten Stift und eine bestimmte Sorte Notizbuch. Stille (oder doch zumindest weder Blaskapelle noch Baulärm).

Sie haben 2019 mit ‹Grand Tour – Reisen durch die junge Lyrik Europas› eine umfassende und beeindruckende Bestandsaufnahme der europäischen Lyriklandschaft erstellt. Wie kamen Sie auf die Idee?

Ich habe diese Anthologie ja gemeinsam mit dem italienischen Dichter Federico Italiano publiziert – und tatsächlich kamen wir gemeinsam auf die Idee, als wir bei einem kühlen Getränk in einem Münchner Sommer zusammensaßen (als man noch bei kühlen Getränken zusammensitzen konnte) und feststellten, dass gewisse jüngere Dichterinnen und Dichter aus Europa, die hierzulande noch gänzlich unbekannt sind, uns beide seit Jahren begeisterten. So entstand der Wunsch, zu zweit weiterzuforschen.

Grand-Tour-Lesung in Belfast © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Gab es in der Recherche einen Moment, der Sie nachhaltig beeindruck hat oder an den Sie immer wieder denken müssen? Wenn ja, welcher war das?

Viele Momente waren es, und zwar immer dann, wenn wir begeisternde Neuentdeckungen machten (also jeden Tag). Und sodann nach der Recherche, als es daran ging, hunderte von Lyrikern und Lyrikübersetzerinnen zu kontaktieren, die erfreuliche Erkenntnis, dass eigentlich alle sofort Feuer und Flamme waren und bereit, sich über sprachliche und geographische Grenzen hinweg auszutauschen, mitzuwirken, später gemeinsam aufzutreten.

Natürlich freuen wir uns darauf, wenn Sie bald auf unserer Bühne stehen werden. Aber welchen kulturellen Live-Moment sehnen Sie als Besucher am meisten herbei?

Ah, so viele – allein die Vorstellung, wieder mit anderen Menschen zu sitzen und zu lauschen, ist herrlich – so herrlich, dass von mir aus auf der Bühne auch auf dem Kamm geblasen oder mit einem Ball jongliert werden dürfte.

Vielen Dank für das schöne Gespräch, lieber Jan Wagner.

Von März 2019 bis September 2020 reisten Jan Wagner und Federico Italiano mit dem Buch im Gepäck und gemeinsam mit Dichterinnen und Dichtern der Anthologie durch Europa und besuchten in jeweils wechselnden Besetzungen zwölf Orte. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat dazu ein Video veröffentlicht.

Die Lyriksession mit Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen europäischen Ländern wird 2022 nachgeholt.

SynFlex Elekro, Blomberg, Samstag, 05. Juni 2021

Claudia Michelsen gehört zu den profiliertesten und ausdrucksstärksten Schauspielerinnen Deutschlands. Regelmäßig zieht sie das deutsche Film- und Fernsehpublikum in ihren Bann und macht sich ehrenamtlich für die Kinder- und Jugendarbeit stark. Heute hätte sie eigentlich bei ‹Wege durch das Land› aus Aldous Huxleys ‹Schöne neue Welt› lesen sollen.

Liebe Claudia Michelsen, was bedeutet für Dich Freiheit?
In meinem Leben hat sich mein Bild von Freiheit immer wieder neu sortiert.
Angefangen von einem Leben in einem Land, in dem Freiheit viel mit Fernweh zu tun hatte, und auch die Sehnsucht nach verlautbarer Gedankenfreiheit war in meiner Jugend bestimmend. Und HEUTE, heute begreifen wir alle Freiheit als etwas, was einem wohl doch nicht uneingeschränkt zur Verfügung steht, durch welche Notwendigkeiten oder Umstände auch immer.
Man besinnt sich wieder auf die Gedankenfreiheit und umarmt das, was jetzt zurückkehren kann und muss.

Claudia Michelsen © Lottermann & Fuentes

Wer oder was hat Dich in den letzten Wochen oder Monaten inspiriert?
Ehrlich gesagt, inspiriert mich Bernd Siggelkow jeden Tag aufs Neue, er und vor allem all die unermüdlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der ‹Archen›, die sich um unsere Kinder kümmern, um das, was so fatal versäumt wird. Bernd antwortete mal auf die Frage von mir, warum er das Tag für Tag leiste und was ihn umtreibt, all die Jahre für Tausende Kinder zu sorgen. Er meinte, wenn er irgendwann dieses irdische Leben verlassen muss, möchte er doch wenigstens das Gefühl haben, dass es einen Sinn gemacht hat, hier zu sein. Und dieses jeden Tag etwas Sinnvolles zu tun, das treibt mich im Moment um, ja.

Bernd Siggelkows Arbeit in der ‹Arche›

Welches Buch, das Du zurzeit liest, kannst Du uns empfehlen?
Ich lese im Moment wiederholt Christa Wolfs ‹Stadt der Engel›, aber auch immer wieder Bruno Bettelheim, der mich seit Jahren schon begleitet.

Welches Live-Konzert würdest Du gern als Erstes besuchen, wenn es wieder möglich ist?
Das fällt mir wirklich sehr schwer, mich für eines zu entscheiden, da ich am liebsten überall wäre. Live und wahrhaftig und ganz unmittelbar, herrlich wird das. Gemeinsam wieder miteinander.
Miteinander und gemeinsam.
Und nächstes Jahr kann ich dann unter anderem auch endlich wieder Nick Cave & The Bad Seeds live sehen.

Tour-Daten

Danke für das Gespräch, liebe Claudia!

Anfang Juli geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit Claudia Michelsen stattfinden wird.

Schloss Wendlinghausen, Dörentrup, Freitag, 11. Juni 2021

Judith Rosmair ist Schauspielerin, Regisseurin und Autorin. Sie arbeitet in den Bereichen Theater, Film, Fernsehen, Hörspiel und Oper und entwickelt eigene Performances. Bei ‹Wege durch das Land› hätte sie heute die literarische Performance ‹Frauen und Fiktion› präsentiert, stattdessen gewährt sie uns einen Blick hinter die Kulissen.

Liebe Judith Rosmair, was bedeutet Freiheit für dich?

Ich erfahre Freiheit, wenn ich kreativ tätig bin oder Zeuge eines kreativen Prozesses bin. Das passiert bei mir naturgemäß meistens dann, wenn ich auf der Bühne stehe. Das heißt, dass ich das zurzeit auch furchtbar entbehre! Allerdings habe ich die Zeit genutzt, um unter anderem noch mal an der Textfassung von ‹Frauen und Fiktion› zu feilen, die ja auf ‹A Room of One’s Own› basiert. In Virginia Woolfs Text geht es darum, was frau braucht, um im Schreiben frei zu sein: finanzielle Unabhängigkeit, einen eigenen Raum und ein gesundes Selbstwertgefühl. Freiheit weiß glühend!

Buchtipp: Virginia Woolf ‹Ein Zimmer für sich allein›

Judith Rosmair © Manu Theobald

Du hast die Veranstaltung ‹Frauen und Fiktion› eigentlich schon für die letzte Saison konzipiert. Denkst du, dass die Corona-Pandemie Frauen und insbesondere Künstlerinnen zurückgeworfen hat oder hat die Krise der Emanzipationsbewegung sogar neue Schubkraft verliehen?

Ich glaube leider, dass sich die Schere noch weiter geöffnet hat, eigentlich in allen Bereichen. Der Markt wird überall immer härter, besonders für freie Künstlerinnen, die Ungleichbezahlung wird immer größer. Die Krise wirkt sich eher negativ auf die Entwicklung der Gleichberechtigung aus. Ich bin der Meinung, dass ich mich – auch wenn ich seit sechs Monaten nicht gearbeitet habe – trotzdem in einer absolut privilegierten Situation befinde. Man muss das Verhältnis wahren und zur Solidarität aufrufen, wenn man schon eine Plattform hat. Der Feminismus und die Emanzipationsbewegung sind noch lange nicht bei einem befriedigenden Ergebnis angekommen.

Du wirst bei ‹Wege durch das Land› gemeinsam mit der Tänzerin Anna Fingerhuth und der Komponistin und Pianistin Anna Bauer auftreten. Wie hat sich diese Zusammenarbeit ergeben?

Anna Fingerhuth habe ich bei ‹Wege durch das Land› kennengelernt. Ich war zu der Zeit sehr fasziniert von Virginia Woolfs Essays, wollte daraus einen Abend entwickeln und da habe ich Anna drin gesehen. Mich bezaubern Formate, wo nicht nur trocken gelesen, sondern auch etwas verkörpert wird. Und weil ich gerne noch eine Musikerin im Boot haben wollte ist mir Anna Bauer eingefallen, die Theatermusik macht, die ich ganz toll finde. Es ist wirklich toll, wenn man für ein Team kreiert.

‹CURTAIN CALL!› © Ebby Koll

Was hat dich neben dieser Zusammenarbeit in den vergangenen Wochen und Monaten außerdem inspiriert?

Also, ich habe gesagt, ich resigniere jetzt nicht traurig, sondern ich transformiere Projekte, die nicht geklappt haben, in ein anderes Format. Ich sollte mit meinem Stück ‹CURTAIN CALL!› einen Monat lang in Paris gastieren und habe dann beschlossen, daraus ein Hörspiel zu machen. Mein Musiker Uwe Dierksen war begeistert und dann haben wir in seinem Studio losgebastelt und ganz viel Liebe und Zeit reingesteckt, um es zu einem – wie ich finde – großartigen neuen Kunstwerk zu machen. Gleichzeitig habe ich an meinem Virtual-Reality-Theater-Projekt ‹BYE BYE BÜHNE› gearbeitet, das Ende August beim Kunstfest Weimar uraufgeführt wird.

Hörspiel ‹Curtain Call!› von Judith Rosmair und Uwe Dierksen

Natürlich freuen wir uns darauf, wenn ihr dann bald auf unserer Bühne stehen werdet. Aber welchen kulturellen Live-Moment sehnst du als Besucherin am meisten herbei?

Ich sehne mich nach diesem gemeinsamen Gruppenerlebnis bei Live-Events. Ich habe mir vorgenommen, dass ich neben Theaterbesuchen mal gucke, wann die Berliner Philharmoniker wieder in der Waldbühne spielen. Das letzte Mal habe ich dort mit einem Freund Prince gesehen und das ist mir so unvergessen.

Livestream: Berliner Philharmoniker und Martin Grubinger in der Waldbühne, 26. Juni 2021

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Judith.

Anfang Juli wird bekannt gegeben, wenn die Veranstaltung mit Judith Rosmair stattfinden wird.

Burg Sternberg, Freitag, 18. Juni 2021

2014 gründete Johanna Stier gemeinsam mit vier weiteren Musikerinnen und Musikern das Monet Quintett. Seitdem spielte das Ensemble bei vielen großen Kammermusikreihen und gewann gleich zwei Stipendien des renommierten Deutschen Musikwettbewerbs. Heute hätten wir das Monet Quintett eigentlich auf der Burg Sternberg hören soll – stattdessen steht Johanna Stier in unseren ‹Aussichten› Rede und Antwort.

Was bedeutet für dich Freiheit, liebe Johanna?

Ich glaube, es bedeutet, Entscheidungen unabhängig treffen zu können – in den großen Fragen des Lebens, doch besonders auch in kleinen Fragen des Alltags. Ich glaube, je mehr dieser kleinen Dinge man frei entscheiden kann, desto größer ist das eigene Gefühl von Freiheit. Doch auch wer viele Verpflichtungen und Einschränkungen, beispielsweise durch Beruf und Familie hat, kann sich frei fühlen, wenn freie Entscheidungen auf diesen Lebensweg geführt haben. Persönliche Freiheit und Rücksichtnahme auf andere stehen sich nicht im Weg.

Monet Quintett © Philippe Stier

Wie haben die Musikerinnen und Musiker des Monet Quintetts zusammengefunden?

Wir kennen aus dem Bundesjugendorchester, wo fast alle von uns während der Schulzeit gespielt haben. Das Quintett haben wir jedoch erst einige Jahre später auf Initiative unserer Flötistin Anissa Baniahmad gegründet. Seitdem arbeiten wir intensiv zusammen und sind sowohl menschlich als auch musikalisch eng verbunden.

Zur CD des Monet Quintetts

Wie habt ihr es als junges und aufstrebendes Ensemble durch die Krisenzeit geschafft?

Im Gegensatz zu Streichquartetten gibt es kaum ein Holzbläserquintett, das allein auf diese Karriere baut – so ist es auch bei uns. Wir sind in verschiedenen Orchestern beschäftigt, die uns zu unserem großen Glück in der vergangenen Zeit den Lebensunterhalt gesichert haben. Nicht vor Publikum aufzutreten, lange Zeit nicht einmal proben zu können und gleichzeitig eine Konzertabsage nach der anderen abzuwickeln, war trotzdem nicht leicht. Zum Glück sind auch einige Konzerte nicht ausgefallen, sondern nur verschoben worden – auf die freuen wir uns jetzt besonders.

Was hat dich in den letzten Monaten inspiriert?

Ich habe den Autor Ian McEwan für mich entdeckt und gleich sechs seiner Romane hintereinander gelesen. In ‹Saturday› hat er eine sehr schöne Passage über Musiker einer Band geschrieben, die man aber genauso auf die Kammermusik übertragen kann.

‹There are these rare moments when musicians together touch something sweeter than they’ve ever found before in rehearsal or performance, beyond the merely collaborative or technically proficient, when their expression becomes as easy and graceful as friendship or love. This is when they give us a glimpse of what we might be, of our best selves, and of an impossible world in which you give everything you have to others, but lose nothing of yourself.›

Diogenes Verlag – Saturday

Welche Wirkung haben, deiner Meinung nach, Musik und Kultur auf eine Gesellschaft?

Zum einen sind Musik und Kultur eine wunderbare Art, seine Zeit zu verbringen – allein oder gemeinsam mit anderen. Ein Abend im Theater bietet Gesprächsstoff, bringt zum Lachen, regt zum Nachdenken an oder lädt umgekehrt dazu sein, eben mal nicht nachzudenken und die Blase des eigenen Alltags für einige Stunden zu verlassen. Ich denke, das tut jedem Menschen gut!

Zum anderen haben Musik und Kultur die Kraft, uns zu zeigen, wer wir sind, woher wir kommen und was uns als Menschen einzigartig macht. Lieder, beispielsweise von Schubert, sind ein gutes Beispiel: Diese Musik mag über zweihundert Jahre alt sein, doch die Gefühle, die da besungen werden, sind damals und heute die gleichen, und immer noch werden die Zuhörenden davon tief berührt. Das zeigt uns, dass die Menschen im Wesentlichen bleiben, wie sie sind, auch wenn die Lebensumstände sich grundlegend wandeln. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft.  

Natürlich freuen wir uns darauf, wenn du und das Monet Quintett bald auf unserer Bühne stehen werdet. Aber welchen kulturellen Live-Moment sehnst du dir als Besucherin am meisten herbei?

Da ich selbst in einem reinen Sinfonieorchester spiele, freue ich mich riesig darauf endlich wieder selbst in einer Opernvorstellung zu sitzen – am liebsten ohne mir vorher die Handlung durchzulesen, dann wird der Abend umso spannender!

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Johanna!

Anfang Juli geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit dem Monet Quintett stattfinden wird.

Rudolf-Oetker-Halle, Samstag, 19. Juni 2021

Der Generalmusikdirektor der Bielefelder Philharmoniker, Alexander Kalajdzic, leitet das Orchester seit der Spielzeit 2010/2011 und gehört somit zu den musikalischen Größen Ostwestfalen-Lippes. Anstatt heute Abend im Rahmen von ‹Wege durch das Land› mit den Bielefelder Philharmonikern auf der Bühne der Rudolf-Oetker-Halle zu stehen, hat er uns einige Fragen beantwortet.

Lieber Alexander, was bedeutet für dich Freiheit?

Ich hatte kürzlich ein Erlebnis bei einem Konzert, ein Livestream, u. a. mit einer Uraufführung der australischen Komponistin Catherine Millikin. Am Abend des Konzerts habe ich spontan Dinge verändert wie die Tempi und die Akustik. Und die Komponistin war sehr glücklich damit, wie sie mir später geschrieben hat. Ich sehe mich als Anwalt der Komponisten und Komponistinnen. Und dieser Weg, den das Orchester und ich im Sinne der Musik von Cathy am Freitag gegangen sind, das ist mein Stück Freiheit, die eigentlich endlos ist.

Alexander Kalajdzic © Identity Group

Bei unserer gemeinsamen Veranstaltung wird es mit ‹Breakfast at Tiffany’s› und Elke Heidenreichs neuestem Buch um Stil und Kleidung gehen. Hast Du auch ein Kleidungsstück mit einer eigenen Geschichte?

Mit 16 habe ich immer ein Sakko von meinem Vater aus den frühen Sechzigern getragen, feiner Style mit gepolsterten Schultern. Die Ärmel waren mir zu kurz und die Schultern waren zu breit, aber ich war so stolz drauf. Das mit Mädels hat leider trotzdem nicht so funktioniert, trotz des Sakkos. Aber das war für mich wie ein Zeichen des Älterwerdens. Das war ein Kleidungsstück, wo ich sofort sagen würde: das hat mich ein Stück weit geprägt und mir auch in einer Zeit, in der ich sehr unsicher war, Sicherheit gegeben und, wie ich dachte, die nötige Coolness.

Du wirst auch ‹Ma Mere L’Oye› spielen. Zu Ravel hast Du ein ganz besonderes Verhältnis.

Ravel war der erste Komponist, bei dem ich mich selbst auch wirklich ernsthaft als Dirigent gefühlt habe. Das war auch an der Hochschule: Alle haben mich danach angeschaut und haben gefragt ‹Was hast du jetzt gemacht?› Das Orchester spielte plötzlich ganz anders und da war eine unglaubliche Verbindung. Das ist auch eine harmonische Sprache, die überträgt sich dann auch so auf das Orchester und auf das Publikum. Ravel komponiert einfach aus einer Intuition und einem Gefühl heraus und seine Musik ist trotzdem nie willkürlich. ‹Jardin Féerique› am Schluss, dieser Zaubergarten, dauert vier Minuten. Warum dauert das nicht ewig? Warum muss diese Musik aufhören? Das könnte einfach so weitergehen, diese unglaubliche kindliche Begeisterung für Klänge und für Märchen, das trifft mich so in die Mitte des Körpers.

Was hat dich in letzter Zeit inspiriert? Welcher Moment, welche Begegnung?

Ich hatte durch Corona viel mehr Zeit zu lesen. Und was mich am meisten getroffen hat, das waren die Begegnungen mit einem alten Bekannten namens Albert Camus. Wie die Franzosen mit Amerika umgehen, das ist so herzerwärmend. Wie er die Reise beschreibt, wie er die Begegnungen beschreibt. Das ist nie von oben und nach unten hinab, sondern immer mit einem Verständnis, aber auch von dieser unglaublichen, gnadenlosen Schärfe. Und es ist so schön zu lesen. Man hat am Tag so viel mit Nebensächlichkeiten zu tun und da hast du einmal die Möglichkeit wirklich zu sitzen und dann wirklich einfach nur lesen.

Fünf Gründe, wieder Albert Camus zu lesen

Das Foto am Meer – was ist das für eine Situation?

Das sind meine zwei Jungs, die da am Meer stehen. Da war für mich das Gefühl des Loslassens. Du kennst sie von der ersten Sekunde ihres Lebens. Und dann siehst du ‹Hoppla die beiden sind schon so erwachsen, dass sie mich nicht mehr brauchen›. Und wenn du von der Erziehung der Kinder loslassen kannst, dann kommt die Erkenntnis, wie sich die Phasen deines Lebens entwickeln. Darum sind die Jungs für mich eine ganz große Inspiration.

Was möchtest Du als Zuschauer als erstes wieder live erleben?  

Die gelbe Wand im Westfalenstadion in Dortmund! Die Atmosphäre im Stadion ist etwas, worauf ich mich wirklich freue!

Vielen Dank für das Gespräch, Alexander Kalajdzic!

Anfang Juli geben wir bekannt, wann die Veranstaltung mit den Bielefelder Philharmonikern unter der Leitung von Alexander Kalajdzic stattfinden wird.

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