Der Gutshof Schulte-Drüggelte ist auf einer Hochfläche zwischen dem Möhnesee und dem Haarstrang gelegen, umgeben von Dörfern, Wäldern und Feldern mitten im Kreis Soest. In einer ganz ähnlichen Umgebung spielt ‹Power›, der zweite Roman der Autorin Verena Güntner, der für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 nominiert war. Er erzählt von dem jungen Mädchen Kerze, die nach einem entlaufenden Hund sucht. Bald schließen sich andere Kinder an und bilden ein Rudel, weil nur ein Hund einen Hund wiederfinden kann. Die Kinder richten sich im nahen Wald ein und werden mehr und mehr selbst zu Hunden. Güntner hat eine kraftvolle moralische Parabel geschrieben, in der die gefühlskalten Erwachsenen versagen, während die Kinder handeln und eine utopische Gesellschaft formieren.
Ein utopisches Szenario hat auch der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago mit seinem Roman ‹Die Stadt der Blinden› geschaffen, den wir heute anders als noch vor sechs Monaten lesen: Aus dem Nichts heraus befällt eine unbekannte Pandemie eine namenlose Großstadt und schlägt die Bevölkerung mit Blindheit. Die Betroffenen werden in Quarantäne gesteckt, die Forschung arbeitet auf Hochtouren an einem Impfstoff und die Stadt wird mit Chaos und Gewalt überzogen. Saramagos Roman beschreibt schonungslos die Ohnmacht der Betroffenen, ihrer Angehörigen und der Entscheidungsträger angesichts eines sich schnell verbreitenden Virus, der die vertraute Welt zusammenstürzen lässt. Die Seuche, die der Autor als literarische Metapher erfunden hat, wirkt heute real und konkret. Helene Grass und Ulrich Noethen werden in einer musikalischen Lesung zusammen mit der Cellistin Ilona Kindt und der Violinistin Birgit Erz das Buch vorstellen. Die Musikerinnen haben Werke ausgewählt, die sie mit dem Thema der Verletzlichkeit und des Wegbrechens des Bekannten verbinden:
Stellen Johann Sebastian Bachs Partiten für Violine solo oder seine Suiten für Violoncello in ihrer formalen Strenge und Klarheit die gesellschaftliche Ordnung und den unerschütterlichen Glauben an Gott dar, so beginnt Eugène Ysaÿes Sonate für Violine solo op. 27 Nr. 2 mit Satz 1 ‹Obsession› zwar mit einem Bach-Zitat, greift dann aber brutal in die Ordnung ein und konterkariert sie geradezu besessen. In dem gespenstisch huschenden 4. Satz aus Friedrich Cerha ‹6 Inventionen› für Violine und Violoncello assoziiert das Duo die Verunsicherung, die eine Gesellschaft in einer um sich greifenden Seuche erfasst. Die Sonate für Violine und Violoncello ‹À la mémoire de Claude Debussy› von Maurice Ravel, das vom Duo im ersten Teil des Abends gespielt wird, ist wohl das wichtigste Werk für die eher seltene Besetzung Violine und Cello.