Der Fehler

‹Waschtinkndiso,
dachte Gabriel entnervt›, lautet in der Neuübersetzung von Frank Heibert der erste Satz aus Raymond Queneaus ‹Zazie in der Metro›. Der französische Romanklassiker beginnt also mit einem dicken Fehler und ist nahezu unverständlich. Erst nach wiederholtem Lesen verstehen wir, dass Gabriel ‹Was stinken die so› denkt. Um näher bei seinen Figuren zu sein, erfindet Queneau, aus dessen Roman wir in der Konzerthalle Bad Salzuflen lesen werden, eine Kunstsprache, die sich gängigen Rechtschreibungs- und Grammatikregeln widersetzt. Durch diesen Kunstgriff bekommt das Buch seinen unverwechselbaren Sound, der dazu geführt hat, dass es einer der meistgeliebten französischen Romane des letzten Jahrhunderts wurde.

Der Jazzmusiker Thelonious Monk hatte eine raffinierte Art, es zu vertuschen, wenn er sich einmal verspielte. Er bekannte, wenn ihm ein Fehler unterlaufe, wiederhole er diesen, um einer missratenen Phrase den Schein der Legitimität zu verleihen, und gäbe ihm so einen Sinn. Der Vibraphonist Lucas Dorado und der Saxophonist Julius Gawlik haben sich von Monk und seinem Stück ‹Ugly Beauty› zu Eigenkompositionen inspirieren lassen, die sie in den Ausstellungsräumen des Marta Herford vorstellen, und machen den Fehler zum Stilmittel.

Für Aaron Dan, der anlässlich der Festivaleröffnung eine Überschreibung des Präludiums op. 39 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven für Bläserquintett erarbeitet, ist der Umgang mit Dissonanz die Essenz der Musik und die Abweichung von der Perfektion die Essenz der Ästhetik. Der Fehler ist also auch immer ein Verstoß gegen die Norm. Er bewahrt vor Gleichförmigkeit und ist ein Garant der Individualität.

‹Aus Fehlern wird man klug›, sagt der Volksmund und offiziell würde ihm niemand widersprechen. In Wahrheit aber leben wir in einer Leistungsgesellschaft, in der Menschen an ihren Erfolgen gemessen und für ihre Niederlagen verurteilt werden. Für Fehler und Scheitern ist kein Platz. Sie einzugestehen gleicht einem Tabubruch. Dabei ist der Fehler der Ursprung des Neuen: Es gibt nur die andere Sichtweise und das so noch nicht Dagewesene. Darum erklären wir in dieser Saison dem Fehler unsere Liebe!

Kunst kommt oft über Umwege und Umleitungen zum Ziel und das Scheitern ist ständiger Begleiter der Kunstproduktion. ‹Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern›, heißt es denn auch in Samuel Becketts spätem Prosaband ‹Worstward Ho›.

So haben wir Kunstschaffende gebeten zu untersuchen, welche Rolle der Fehler in ihrer Arbeit spielt und wo sie zwischen Virtuosität und Provisorium ihre schöpferische Kraft finden. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Arbeit europäischer Künstlerinnen und Künstler. Die Kunst war schon immer der Kitt, der den Kontinent zusammenhält. Wir wollen der Frage nachgehen, was heute die Gemeinsamkeiten der europäischen Kunstschaffenden sind.

‹Wege durch das Land› möchte eine Plattform sein, auf der Künstlerinnen und Künstler mit ihrer Arbeit reflektieren und diskutieren, wie das Europa, in dem wir leben wollen, aussehen soll und wie wir dorthin kommen können.
Die türkische Autorin Aslı Erdoğan, der in ihrer Heimat ein Prozess als Staatsfeindin gemacht wurde und die im Exil in Deutschland lebt, wird in der Glashütte Gernheim ihr bewegendes Buch ‹Das Haus aus Stein› vorstellen. Die spanische Saxophonistin Mari Ángeles del Valle Casado wird im Museum Peter August Böckstiegel Werke von Zeitgenossen des Malers spielen. Der Autor Jan Wagner, Büchner-Preisträger des Jahres 2017, hat für uns einen Tag der Lyrik kuratiert, zu dem wir sechs Lyrikerinnen und Lyriker aus sechs europäischen Ländern eingeladen haben, auf Gut Oberbehme im Kreis Herford aus ihren Werken zu lesen. Und zum Abschluss des Festivals wird unsere ‹Schauspielerin in Residence› Sophie Rois auf dem Gutshof Schulte-Drüggelte im Kreis Soest einen Abend gestalten, der ganz im Zeichen Großbritanniens steht und mit ‹Have a Cup of Tea› überschrieben ist. An den drei letztgenannten Orten ist ‹Wege durch das Land› übrigens erstmalig zu Gast. Zusammen mit der Unibibliothek Bielefeld, dem Alten Güterbahnhof Herford, der Christuskirche Obernbeck, dem Hof Meyer zu Bentrup und der RecyclingBörse! in Bielefeld bespielen wir in diesem Jahr viele Orte zum ersten Mal. Eröffnet wird das Festival mit drei Veranstaltungen im Kreis Herford, der seit dem letzten Jahr zu den Gesellschaftern des Literatur- und Musikfestivals gehört.

Auch dieses Jahr wird uns der Dreiklang aus Wort, Musik und Ort begleiten, dabei liegen wieder ungewöhnliche Formate auf unseren Wegen durch das Land. Etwa ein Familiennachmittag, an dem der Illustrator Kai Schüttler live zur Lesung des Autors Jörg Isermeyer zeichnen wird. Oder eine literarisch-musikalische Radtour durch die Senne und eine Lesung mit Musik und Tanz auf Schloss Rheder. Schließlich bespielen wir im Sommer der Fußball-Europameisterschaft ein ganzes Stadion und die Autorennationalmannschaft kommt in die Sportclub Arena nach Verl.

Gemeinsam mit unserem Team laden wir Sie herzlich ein, eine Festivalsaison lang auf Fehlersuche zu gehen, aufregende Irrtümer zu entdecken und auf unseren Umwegen durch das Land viel Neues zu erleben.

Ihre Helene Grass
und Ihr Albrecht Simons von Bockum Dolffs

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