‹Problematische Verhältnisse zu Müttern sind eine große Sache›, hat der Autor Dmitrij Kapitelman erkannt und unser Abend im idyllischen KuStall Ottbergen steht ganz im Zeichen von Mutter-Kind-Beziehungen. Irène Némirovsky, 1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren, hat mit ‹Der Ball› ein einzigartiges Portrait einer Familie in den 30er Jahren mit Fokus auf das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter gezeichnet.
Claudia Michelsen liest diesen Text über eine boshafte Mutter, die einen Ball plant, bei dem sie selbst den einzigen Mittelpunkt bilden soll. Aus Furcht vor der herangereiften Tochter Antoinette, schließt sie diese davon aus, erweckt damit deren kindlichen Zorn. Verbittert wirft Antoinette die Einladungen in die Seine, ertränkt die Hoffnungen der Mutter in der Pariser Kanalisation. Zwar entwindet Antoinette sich dem mütterlichen Griff, muss dabei aber mit Schrecken erkennen, dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Spiegelbild ihrer Mutter ist.
Auch die Beziehung von Dmitrij Kapitelman zu seiner Mutter ist komplex. Schwärmt er von seiner ‹Damals-Mama› in Kiew, ist er inzwischen voller Wut auf seine ‹Heute-Mutter›. Sein neuer Roman ‹Russische Spezialitäten› erzählt von einer Familie aus Kiew, die in Leipzig russische Spezialitäten verkauft: Wodka, Pelmeni und ein osteuropäisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Letzteres scheint seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ausverkauft, denn die Mutter steht an der Seite Putins. Ihr Sohn, der keine Sprache mehr liebt, als die russische, keinen Menschen mehr, als seine Mutter, aber auch keine Stadt mehr als Kiew, verzweifelt. Selbstironisch und mit Bewusstsein für den Wandel von Zugehörigkeit und das Nebeneinander von Identitäten erzählt Kapitelman von dem Versuch, seine Mama von irren russischen Fernsehlügen zurückzuholen und sich dabei selbst nicht zu verlieren. Musikalisch begleiten die hochklassigen Musiker:innen Sennu Laine, Sebastian Krunnies und Marina Grauman, die exklusiv für uns Werke von Gideon Klein und Ludwig van Beethoven erklingen lassen.