Bahnhöfe sind emotionale Orte. Hier träumen wir vom Wegfahren oder Ankommen, sie stehen für Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz, sind Sehnsuchtsorte und Rettungsanker. Und so sind wir in dieser Saison im Alten Güterbahnhof Herford zu Gast und schließen uns literarischen Zugreisenden mit ihren ganz unterschiedlichen Geschichten an. Jaroslav Rudiš hat mit ‹Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen› eine grandiose Liebeserklärung an die Eisenbahn verfasst, die ebenso humorvoll wie klug ist. Im Takt der Schienen begeben wir uns mit ihm durch Europa, besuchen die schönsten Bahnhöfe, speisen in den besten Speisewaggons und begegnen den skurrilsten Personen. Im Umsteigen und in Unterbrechungen sieht Rudiš das Schöne, alte Strecken und langsame Verbindungen sind ihm die Liebsten. Er erklärt, was Krokodile und Brigitte Bardot mit Lokomotiven zu tun haben und verwebt die Historie der Eisenbahn mit den Geschichten der Menschen, die sie nutzen und antreiben
Dass der Zug zugleich Zuflucht und Gefahr bedeuten kann, daran erinnert uns anrührend und eindrucksvoll der 1938 verfasste Roman ‹Der Reisende› von Ulrich Alexander Boschwitz. Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann wird mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten vom Großbürger zum Gejagten. Verzweifelt nimmt er Zug um Zug, reist quer durchs Land und trifft auf Flüchtende, auf Nazis, auf gute und schlechte Menschen. In einem unglaublichen Erzähltempo legt der Text auf erschütternde Weise Zeugnis über die Lebenswirklichkeit eines verfolgen Juden 1933 ab und ist zugleich –erschreckenderweise – aktueller denn je. Samuel Finzi liest diesen so wichtigen und bemerkenswerten Text.
Die Band Marina and the Kats wird das Programm begleiten, musikalisch swingend mit Jaroslav Rudiš durch Europa reisen und aus ihrem kurz zuvor erschienen Album ruhigere, ernstere Seiten zusammen mit dem Text Boschwitz’ verbinden.